16. Kapitel

 

Es stank nach Bier, Schweiß und Erbrochenem. Ihr Gesicht war in der Hitze der übervollen Taverne gerötet.

»Bring die Kleine hierher, Fanny.«

Violet drückte sich noch tiefer in ›ihre‹ Ecke. Wie lange war sie eigentlich schon hier? Sie hatte jemand sagen hören, dass heute Weihnachten war. Wenn das stimmte, dann war sie schon seit über zwei Jahren hier.

»Lass sie in Ruhe, David.«

Jemand trat ihr ans Bein, und sie zog die Knie unters Kinn, machte sich so klein wie möglich. Der Stiefel trat erneut zu. Diesmal traf er ihren Fuß, was nicht ganz so wehtat. Dennoch tastete sie zitternd unter ihren Rock, dorthin, wo sie das Küchenmesser versteckt hatte. Sie achtete darauf, dass es nicht zu sehen war, denn Fanny hielt sich im Schankraum auf. Sie würde Prügel kriegen, wenn sie noch mal dabei erwischt wurde, wie sie einen Gast mit dem Messer abwehrte.

Aber Prügel waren immer noch besser, als sich von irgendwelchen Betrunkenen betatschen zu lassen. Außer natürlich, Fanny beschloss, ihr nichts mehr zu essen zu geben. Hungern war am allerschlimmsten.

»Bist'n hübsches kleines Ding«, lallte eine nach Whisky und Fleischpastete stinkende Stimme. Violet drehte sich der Magen um. Sie umklammerte panisch ihr Messer...

Violet schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie tastete nach ihren Augen, zwang sich, nicht zu weinen. Das hatte sie sich vor langem geschworen: Nicht mehr zu weinen.

Sie schlang die Arme um ihr dünnes Unterhemd und wiegte sich vor und zurück, so wie die alte Köchin sie früher manchmal in den Armen gewiegt hatte. Der Gedanke an die gütige alte Frau beruhigte sie ein wenig, und ihr Zittern ließ nach.

Die Albträume waren nichts Neues, aber sie häuften sich, seit sie in London eingetroffen war. Vielleicht deshalb, weil sie ihrem Ziel so nahe war.

Ismail.

Beim Gedanken an ihn hielt es sie nicht länger im Bett. Sie sprang auf und schlüpfte rasch in einen schlichten langen Rock und in eine Bluse. Kein Zögern mehr. Der Abend in der Oper hatte ihr die Augen geöffnet. Beinahe hätte sie sich von Patrick von ihren Zielen abbringen lassen. Aber damit war jetzt Schluss. Seit jenem Abend waren fünf Tage vergangen, und sie hatte ein paar Fortschritte gemacht.

Violet trat aus dem Wohnwagen und atmete die kalte Morgenluft ein. Es wurde jetzt von Tag zu Tag kälter. Bald würde es schneien über London. Sie konnte es riechen.

Violet ging an den anderen Wohnwagen vorbei, passierte die Löwenkäfige und blieb schließlich vor Grahams kleinem Zelt, das er als Büro benutzte, stehen.

»Graham?«, rief sie. Sie wusste, dass er um diese Zeit schon auf sein würde. Er und seine Frau waren Frühaufsteher. Er kümmerte sich dann um die Bücher, und sie kontrollierte die Vorräte für Menschen und Tiere.

»Herein.«

Violet betrat das Zelt. Der Geruch von Carlo, dem Jongleur, hing noch in der Luft. Was er wohl von Graham gewollt hatte? Sie trat zu dem Alten, der hinter einem wackeligen Tisch saß.

»Ich brauche meinen Lohn, Graham.«

»Gut.« Violet hörte Papiergeraschel und wie eine Schublade geöffnet wurde. »Wie viel brauchst du?«

»Alles.«

Stille. Dann wurde eine Schublade zugeschoben und eine andere geöffnet.

»Du willst uns doch nicht verlassen?« Graham drückte ihr eine Rolle Scheine in die Hand. Violet wusste nicht, wie viel es war, aber Graham war ehrlich. Im Übrigen würde sie früh genug herausfinden, ob er sie betrogen hatte oder nicht.

»Nein, noch nicht«, antwortete sie lächelnd und schob die Geldrolle in einen Schnurbeutel, den sie zu diesem Zweck mitgebracht hatte. »Aber ich muss was erledigen. Ich bin bis zur Vorstellung wieder zurück.« Sie wandte sich auf dem Absatz um und wollte gerade das Zelt verlassen, als er ihr hinterherrief: »Wir geben heute Abend nur die eine Frühvorstellung, Violet. Wir brauchen alle mal 'ne Pause.«

Violet nickte und ging.

Mr. Werrington würde sie an der Ecke Green Park erwarten. Nach wochenlanger, nahezu fruchtloser Suche wollte er seinen Lohn, oder er würde nicht weiter nach Ismail suchen.

Violet schaute kurz zu Sarah in den Wohnwagen hinein, borgte sich einen Mantel und machte sich auf den Weg. Es war mehr als eine Stunde zu Fuß bis zum Green Park, aber um diese Tageszeit gab es beim Zirkus keine Kutschen. Und selbst wenn - sie hätte nicht genug Geld gehabt, um sich eine Kutschfahrt zu leisten. Mr. Werrington würde ihren ganzen Lohn bekommen.

Nachdem sie eine Viertelstunde den gefrorenen Weg entlanggegangen war, hörte sie eine Kutsche kommen, einen Vierspänner, dem Geruch nach zu schließen.

Die Kutsche kam neben ihr zum Stehen.

»Violet?«

Angelica!, stellte Violet verblüfft fest. Was um alles in der Welt hatte die Prinzessin hier zu suchen? Der Zeltplatz befand sich außerhalb der Stadt in einem Wäldchen.

»Prinzessin?«

Der Kutschenschlag ging auf, und ein Duft nach Rosenblüten wehte heraus.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht so nennen!«, schalt Angelica. »Und wo um alles in der Welt willst du bei dieser Kälte hin?«

Violet musste unwillkürlich lächeln. Angelica war so mütterlich, immer besorgt um ihre Lieben.

»Ich muss mich mit jemandem treffen«, erwiderte sie. »Aber was tust du hier?«

»Na, ich bin gekommen, um meine Freundin zu besuchen!« Angelica war ausgestiegen und umarmte sie. »Du hast dich vor mir versteckt, Violet! Ich habe dir zahllose Einladungen geschickt, und immer kam die Antwort: ›Tut mir leid, bin zu beschäftigt‹ zurück. Damit ist jetzt Schluss! Komm schon, steig ein, du erfrierst ja hier draußen!«

»Angelica«, protestierte Violet, doch die andere hatte sie bereits in die warme Kutsche geschoben.

»Ja, ja, ich weiß, du musst dich mit jemandem treffen. Ich werde dich hinbringen, aber dann müssen wir zu einer Anprobe.«

»Eine Anprobe?«, fragte Violet ratlos. Sie wollte gar nicht wissen, was Angelica nun wieder vorhatte, dennoch fragte sie: »Wofür?«

»Für einen Ball zu Ehren eines sehr guten Freundes. Eine Geburtstagsparty. Ich habe ihm so viel von dir erzählt. Es würde ihm das Herz brechen, wenn ich heute Abend ohne dich auftauche.«

»Angelica, ich habe heute Abend einen Auftritt...«, begann Violet, aber ihre Freundin schnitt ihr das Wort ab.

»Hör zu, du bist mir lange genug aus dem Weg gegangen. Und so überfüllt London auch ist, du gehörst zu den wenigen Menschen, die ich wirklich mag. Ich weigere mich, noch länger auf deine Gesellschaft zu verzichten!«

Violet gab sich lachend geschlagen. Sie würde sich mit dem Detektiv treffen und später mit Angelica zu dem Ball gehen. Es würde ohnehin eine Weile dauern, bevor Mr. Werrington etwas vorzuweisen hätte.

»Also gut, Prinzessin, ich höre und gehorche. Aber ich muss zu diesem Treffen, und ich muss zur Frühvorstellung.«

»Kein Problem«, bemerkte Angelica glatt, »ich werde dich zu dem Treffen bringen, dann fahren wir zur Anprobe, dann bringe ich dich zurück zur Vorstellung, und danach gehen wir zum Ball. Ich hole dich ab. Also, wo ist dieses Treffen?«

»An der Ecke Green Park«, erklärte Violet.

»Zum Green Park also«, sagte Angelica und gab ihrem Kutscher die entsprechenden Anweisungen. Violet dachte derweil an den Ball. Wer mochte dieser Freund von Angelica sein? Sie hoffte sehr, dass Lord Bruce nicht da sein würde. Den konnte sie jetzt nicht gebrauchen.

Die Kutsche holperte den ungepflasterten Weg entlang, und Violet lehnte sich zufrieden zurück. »Wer ist denn dein Freund?«

»Ach, er ist einfach großartig. Du wirst ihn lieben.«

Violet nickte und ließ ihre Gedanken schweifen. Lieben ... sicher nicht so wie Patricks Berührungen, seine Küsse ... Kopfschüttelnd befreite sie sich aus ihren Gedanken.

Um sich abzulenken, fragte sie: »Und wann wird dein Prinz von seinen Reisen zurückkehren?«

Angelica stieß einen langen, sehnsüchtigen Seufzer aus. »Ach, mein Alexander. Ich wünschte, ich wüsste es. Hoffentlich bald. Ich vermisse ihn so sehr.«

Violet fragte sich, wie es wohl sein mochte, eine solche Beziehung zu erleben, wie Angelica und Alexander sie hatten. Ihre Freundin hörte nicht auf, von ihrem Mann zu schwärmen. Vielleicht, wenn die Dinge anders lägen, hätte auch sie einen Mann finden können, der sie glücklich gemacht hätte... Wenn die Dinge anders lägen.

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